MUMBAI – Slumdogs und Millionaires
Unruhig warte ich im Flieger darauf, endlich freigelassen zu werden.
Wir sind gerade in Mumbai gelandet, meiner ersten Station in Indien.
Bewaffnet mit probiotischen Magentabletten, Klopapier, Immodium und Desinfektionstüchern setze ich vorsichtig eine erste Zehenspitze auf indischen Flughafenboden und werde von einem samtenen lila Teppich, Indoor-Palmen und supersauberen Toiletten samt Samtklopapier überrascht.
„Ach so!“, denke ich.
Ich steige in das bereits am Flughafen bezahlte Prepaid-Taxi und wir düsen über einen riesigen, modernen Highway.
Rechts und links werben Stars, die ich nicht kenne, auf riesigen LED-Tafeln für Produkte, die ich nicht kenne.
Daneben zischen mal sehr moderne Skyscraper, mal sehr heruntergekommene Blechhütten vorbei.
Wie ist Mumbai denn jetzt? So oder so?
Bandra, die Gegend in der mein Hostel liegt, wirkt für mich auf den ersten Blick eher so.
Kleine Streetfood-Buden, Männer-Massen, dazwischen brennende Müllhaufen.
Im Hostel sagt man mir, Bandra sei so sicher, dass ich Abends alleine nach Hause laufen könne.
„Ach so?“, denke ich.
Im Wohnzimmer lerne ich Haily kennen. Sie ist Hochzeitsfotografin und kommt aus Gujarat – ein indischer Staat, von dem ich noch nie gehört habe.
Dort ist Alkoholkonsum verboten, weshalb Haily jetzt, wo sie in Mumbai ist, großen Durst hat.
Also ziehen wir gemeinsam mit ihrem Kumpel Vraj los.
Ich bitte die beiden, einfach das zu machen, was sie ohne mich auch machen würden.
Ich will das wahre Indien sehen.
„Ok.“, sagen sie. „Dann gehen wir jetzt Pizza essen.“
Zwar nicht ganz das, was ich erwartet hatte, aber klar!
Junge Inder haben wahrscheinlich ähnlich oft Lust auf Chicken Korma und Palak Paneer wie junge Münchener auf Schweinebraten und Saures Lüngerl.
Also bestellen wir eine American Pizza in einer Dachterrassen-Bar mit Swimmingpool, schauen Kricket und quatschen über Politik.
Vraj und Haily schimpfen über Premierminister Modi, von dem ich nichts weiß, schon gar nicht, dass er eigentlich Mönch werden wolle.
Die beiden gar können nicht fassen, wie schlecht es um meine Indien-Kenntnisse steht.
Dann fragt Haily plötzlich: „Hitler was …“ und Vraj ergänzt: „… Russian, right?“.
Vor Erstaunen bleibt mir fast meine Farmers-Pizza im Hals stecken.
„No?“, protestiere ich.
„I am pretty sure he was Russian“, wiederholt Vraj.
Ich diesem Fall bin ich mir sicherer. „Hitler was German!“.
Dabei flüstere ich das böse Wort (nicht German).
Ich hätte es genauso gut über die Dachterrasse brüllen können.
Wir sind in einem Land, in dem das Hakenkreuz ein Glücksbringer ist.
Ob ich noch eins weiter ziehen will, fragen Haily und Vraj.
„Klar!“, sage ich, latsche nebenher und merke vor lauter Ratscherei gar nicht, dass ich durch einen Security-Check gelaufen bin.
Und plötzlich stehe ich mitten im prunkvollen Foyer des Taj Mahal Palace, dem Fünf-Sterne-Luxushotel.
Ungeschminkt, unfrisiert und in meiner Wanderhose… zwischen lauter reichen Edel-Indern.
Ich bin weiß und damit edel genug.
Wir trinken an der Hotelbar, die wie jede andere Hotelbar aussieht, eines der teuersten Biere, die man in Indien finden kann: 4,50 Euro.
Und um diesen Luxus noch zu toppen, fahren wir danach mit der Rikscha (wenig luxuriös) vor Shaharuk Khans Villa – oder besser gesagt: Kleinstadt.
Shaharuk Khan ist einer der berühmtesten Bollywood-Stars, der hier, unweit des Luxushotels ein riesiges Anwesen hat – samt eigenem Wolkenkratzer, den Luxusschlitten und den 10 Sicherheitskräften, die all die Selfie-schießenden Inder hier wohl davon abhalten sollen, über die Sicherheits-Mauer zu klettern.
Vraj zeigt mir ein Youtube-Video von Shaharuk Khans Geburtstag.
Darin steht er auf seiner Mauer und winkt, und dann kreischt eine Menschenmasse, als wäre Michael Jackson vor ihnen wiederauferstanden.
Nur dass den hier wahrscheinlich niemand erkennen würde.
Am nächsten Tag will ich die andere Seite Mumbais sehen. Die größere Seite.
Denn 70 Prozent der Bevölkerung Mumbais leben in Slums.
Ohne Strom, ohne fließend Wasser.
In diesen Vierteln ist man als Tourist nicht gern gesehen.
Aber es gibt ein Vorzeige-Slum, in dem Besucher nicht nur geduldet,
sondern sogar willkommen sind: Dharavi.
Die ganze Welt hat es schon gesehen, im Film „Slumdog Millionaire“.
Und für die, die es sich genauer anschauen wollen, bietet die Agentur Reality Tours Führungen an.
80 Prozent der Eintrittsgelder werden für soziale Maßnahmen im Slum verwendet, wie Sportunterricht, Englisch-Kurse oder Bewerbungstrainings.
Diese Unterstützung unterstütze ich sehr gerne.
Zum Treffpunkt der Tour nehme ich den Zug, genau wie 7,5 Millionen Menschen jeden Tag.
So voll wie in Mumbai sind die Züge nirgendwo auf der Welt.
Ein netter Inder führt mich durch das unübersichtliche Gewusel am Bahnhof zum Tickethäuschen und deutet auf eine Schlange.
„Booking Window for Physically Disabled Persons“ steht auf dem Schild darüber.
Gerade, als ich empört protestieren will („Ich weiß, ich habe Sommersprossen, aber das ist noch lange keine Beh…“), sehe ich:
„Ladies“, steht ganz unten im Kleingedruckten.
„Ach so. Nee.. Moment. Hä?“ frage ich.
„Das ist, damit ihr nicht so lange warten müsst.“, sagt der Inder. „Und achte darauf, dass du im Frauenwaggon sitzt, das ist sicherer.“
„Ach so.“, sage ich.
Vieles ist hier nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint.
Auch Dharavi, das Slum, nicht.
Genau genommen ist Dharavi gar kein Slum mehr.
Ein Slum ist eine illegale Siedlung, doch Dharavi wurde bereits in den Neunzigern als „legal“ anerkannt.
Seitdem bekommen die Einwohner hier Strom und für zwei Stunden am Tag fließend Wasser.
Und es gibt 700 öffentliche Toiletten. Für 5000 Menschen, muss man dazu sagen.
Ein „Fünf-Sterne-Slum“, strahlt unser Tourguide.
Er würde gerne hier wohnen, wenn er irgendwann genug Geld dafür hat.
Und tatsächlich: Im Wohn-Viertel ist es dreckig, es ist eng, die Stromleitungen hängen so tief, dass man manchmal nur geduckt voranbuckeln kann…
Aber im Endeffekt gibt es in Dharavi alles, was es in anderen Städten auch gibt.
Ein Spielcasino, drei Polizeistationen, kleine Supermärkte, mehrere Colleges und eine „Wedding Hall“ (ein Eisengestell mit einer ausgewaschenen roten Markise, das allerdings herzlich wenig mit den indischen Bollywood-Hochzeiten zu tun hat, die ich auf Hailys Fotos gesehen habe).
Und dann gibt es noch das Fabrik-Viertel-Dharavis.
Die Arbeiter hier sind so arm, dass sie sich das Wohnen in Dharavi nicht leisten können.
Deshalb schlafen sie direkt in den Fabriken.
Weit weg von ihren Familien, denn die meisten Arbeiter sind Farmer aus dem Umland.
Weil es dort nur zwei Monate lang etwas zu tun gibt, arbeiten sie den Rest des Jahres hier.
Zum Beispiel in der Plastik-Recycling-Fabrik, in der jedes noch so kleine aufgesammelte Plastikstück in mühevoller Kleinstarbeit gereinigt, auf den Dächern getrocknet und zu Plastikpellets verarbeitet wird.
Oder in der Fabrik, in der alte Blechfässer aufgeschweißt werden. Das ist der härteste Job in Dharavi.
Weil die Arbeiter eine Stückprämie verdienen, verzichten sie oft auf Handschuhe und Atemmasken. Dann sind sie schneller und verdienen mehr.
Ihr Einkommen ist besonders hoch (etwa 3,50 Euro am Tag),
ihre Lebenserwartung besonders niedrig (etwa 40 Jahre).
Das ganze Leben geopfert für die Familie, die es besser haben soll.
Nachdenklich und gerührt verlasse ich Dharavi, begleitet von einer Horde Kinder, die uns fröhlich hinaus High-Fiven.
Um den Tag ausklingen zu lassen, fahre ich zusammen mit Matt aus Neuseeland zum Strand.
Zwar badet hier niemand, denn alle Abwässer der Stadt werden direkt ins Meer geleitet, aber der Sonnengang ist auch trocken schön anzusehen.
Fröhlich springen wir danach vom Bahnsteig in einen abfahrenden Zug (praktisch, dass die Türen hier immer offen sind) und werden von einem entsetzten Kreischen begrüßt.
Mist, Frauenwaggon.
An der nächsten Station steigen wir ins Männerabteil um.
Der Waggon in am Anfang noch schön leer und wird dann, von Station zu Station, immer voller.
So voll, dass ich mich an unserer Station mit meiner Tasche auf dem Kopf sehr nah an vielen, vielen Männern vorbei drücken muss.
Ich versuche, nicht an die ganzen Indien-Horror-Geschichten zu denken, die mir anfangen im Kopf herumzuspuken, halte die Luft an und schiebe mich vorbei.
Alle Männer treten einen Mini-Schritt nach hinten, um mir Platz zu machen und ignorieren mich höflich.
„Ach so.“, denke ich.