ESTLAND – Klein aber öhö
„Gniiiihihi!“
Das war meine Reaktion, als ich zum ersten Mal die niedliche Altstadt Tallinns betrat. Doch das verzückte Kichern sollte mir vergehen, als ich mitten in Estland ausgepeitscht wurde – und zwar splitterfasernackt.
„So also sehen Esten aus!“. Neugierig blicke ich mich in der Fähnchen schwenkenden Menge um. Vor meinem Besuch hier war ich noch nie jemandem aus Estland begegnet. Es wäre auch recht unwahrscheinlich gewesen, denn auf der Welt gibt es weniger Esten als Münchner. Und nun sehe ich gleich hunderte davon auf einem Haufen sitzen. Anders kann man den kleinen Burghügel Tallinns nun wirklich nicht bezeichnen. Hier oben feiern die Esten heute ihren Unabhängigkeitstag, auf den sie zurecht sehr stolz sind.
Denn im Jahr 1991 schlugen die kleinen Esten ganz alleine die große Sowjet-Armee in die Flucht. Nicht mit Panzern. Nicht mit Waffen. Nein… mit ihrem Gesang! Sie grölten die russischen Soldaten so lange mit ihren Volksliedern voll, bis diese mit blutigen Ohren die Flucht ergriffen.
Und ganz ehrlich: Ich wäre auch abgehauen.
Das Tröt-Dödel-Dööt der estnischen Dudelsäcke verfolgt mich auf Schrittchen und Trittchen, während ich durch die engen Gässchen der Hauptstadt tipple. Seitwärts, um nicht aus Versehen eines der kleinen Mini-Häuschen umzuwerfen. Bis ich schließlich mit einer Welle Kreuzfahrt-Touristen auf den Marktplatz geschwemmt werde. Sie ziehen hier plündernd durch die Bernstein-Shops, wie früher die estnischen Wikinger. Wobei die estnischen Wikinger eher selten plündernd herumzogen. Weil sie wenig kampfestauglich waren, erfanden sie eine Art Bringdienst. Sie legten sich an den Strand und warteten, bis die bereits stark siegestrunkenen finnischen Wikinger auf dem Rückweg von ihren Raubzügen an ihnen vorbeischipperten. Und dann mopsten sie ihnen kurz vor dem Zuhause die Beute weg.
Klein sein macht eben erfinderisch. Vor allem, wenn man sich in einer geografischen Zwickmühle befindet – genau zwischen Russland und der EU. Um nicht ständig zum Spielball der Großmächte zu werden, haben sich die Esten eine komplizierte Geheimsprache ausgedacht, die kein Nicht-Este jemals erlernen wird. Ich zumindest habe es nicht geschafft, mich durch die 14 estnischen Fälle zu deklinieren, wie den Alaleütlev, nicht zu verwechseln mit dem Alalütlev oder dem Alaltütlev. Stößt man sich den Zeh an einer der kleinen Spielzeug-Kirchen an, muss man aufpassen, nicht aus Versehen einen estnischen Zungenbrecher aufzusagen:
„Ao äia õe uue oaõieaia õueaua ööau.“ Aber dank der vielen deutschen Einwanderer kommen mir einige Schriftzüge in Tallinns Straßen doch bekannt vor. Und so laufe ich kichernd vorbei an der „Politsei“ und vernasche dabei einen „Trühvel“. Für eine „Buljong“ hat die Zeit nicht mehr gereicht, denn ich gehe auf eine „Ekskursioon“. („Gniiiihihi!“)
Tourguide Mariju mit der putzigen Pumuckl-Frisur wird uns heute ein Highlight ihrer Heimat zeigen: Estlands größten Wasserfall!
Zu estnischer Tröt-Dödel-Dööt-Musik hoppeln wir im Kleinbus durch den Wald.
Weit und breit ist nichts Aufregendes zu sehen. Und man sieht wirklich weit, denn Estlands höchster Berg ist gerade mal 318 Meter hoch. Auf seinen Gipfel haben die Esten einen hohen Aussichtsturm gestellt. Nicht, dass man versehentlich mit einem Fuß wieder zurück ins Tal steigt. Kurz vor dem Ziel bittet uns Mariju etwas kleinlaut: „Äääh, please don`t expect too much.“
Und dann… stehen wir endlich… vor Estlands größtem Wasserfall!
Äääh, ich sag mal so: Als Zimmerbrunnen wäre er durchaus beeindruckend.
Wer hätte gedacht, dass dieses Mini-Land einen Sportrekord nach dem anderen bricht?
Zumindest in der estnischen Nationalsportart.
Eine Sportart, auf die schlichtweg noch keine andere Nation gekommen ist: Schaukeln.
„Manche schaffen sogar 360-Grad-Umdrehungen!“, ruft Mariju stolz, während wir uns ängstlich an die quietschenden Holzstreben klammern. Ein starker Magen ist als Profischaukler wohl das Ä und Ö (wahrsch. estn. für „A und O“).
All dies mag vielleicht so wirken, als könnten die Esten nicht bis drei zählen.
Doch ich garantiere euch: Das können sie.
„Üks. Kaks. Kolm.“ („Gniiiihihi!“)
Aber im Ernst: Wenn es um technische Innovationen geht, sind die Esten absolute Spitzenreiter. Nicht umsonst gilt Estland als Silikön Välli (wahrsch. estn. für „Silikon Valley“) Europas. Skype wurde hier erfunden. Marijus Elternhaus hatte WLAN, bevor warmes Wasser aus der Leitung floss. Man wählt hier online, sammelt mit dem Personalausweis Treuepunkte im Supermarkt und kann jederzeit in seiner digitalen Krankenkarte nachprüfen, ob der Cholesterinspiegel noch eine weitere estnische Blutwurst erlaubt.
Langsam werde ich misstrauisch.
Ist dieses Land wirklich so harmlos, wie es tut?
Oder operiert von hier, in diesen schier unendlichen Waldgebieten… vollkommen unbeobachtet ein Geheimdienst? Die C-Ai-Äi? Oder eine geheime Häcker-Mafia, die schon bald die Wölthärrschaft an sich reißen wird?
Nein.
Wohl eher nicht.
Nach einigen Tagen bin ich relativ sicher:
Das Spannendste an Estland ist der Thriller in meinem Rucksack.
Und den packe ich jetzt ein, für einen gemütlichen Spa Day. Denn die Esten sind für ihre Sauna bekannt, in der man sich – wie ich hörte – mit Birkenzweigen und Honig behandeln lassen kann. Wenig später stehe ich mit meinem Handtuch und meinem Thriller in einem weiß gekachelten Raum voller Neonröhren. Drei dicke Omas mit selbstgehäkelten Wollmützen mustern mich abschätzig von oben bis unten. Die vierte Omi unterbricht kurz das Schneiden ihrer Fußnägel und blickt mich fragend an. Mit einem verlegenen „Gniiiihihi!“ suche ich nach dem Ruheraum und den Kuscheldecken … vergeblich. Da fällt mein Blick auf ein Bündel Birkenzweige in einem großen Putzkübel. „For everyone?“, frage ich erfreut. Beleidigt schütteln die Omas den Kopf und ziehen den Eimer an sich heran.
So brutzle ich schließlich ratlos bei lauschigen 80 Grad zwischen den Mützen-Omis vor mich hin. Auf den estnischen Saunahonig habe ich verzichtet, um nicht als glasierter Krustenbraten zu enden. Außerdem hätten mir die Omas sowieso nichts davon abgegeben.
Danach entspanne ich gerade herrlich auf den kalten Fliesen, da winkt mir die Fußnagel-Oma energisch mit einem Bündel Birkenzweige. „Mitkommen!“. Klopfenden Herzens folge ich ihr in die Sauna und lasse mein Handtuch fallen. Mit ein paar beherzten Griffen bringt sie mich in den Vierfüßler-Stand. Gerade noch rechtzeitig können sich meine Hände auf den glühenden Holzbänken abstützen. Meine blanke Kehrseite ragt nun genau in Richtung Glastür… vor der sich in diesem Moment vermutlich drei „Gniiiihihi!“-machende Wollmützen-Omas drängeln.
Und dann – während der Duft verkokelter Haut langsam den Raum erfüllt – holt die Grobmutter (wahrsch. estn. für „Großmutter“) Schwung und peitscht mich derartig mit ihrem Birkenbündel aus, dass mir das Hören, das Sehen und sogar das Schwitzen vergeht.
Als ich nach dieser Prügelattacke wieder zu mir komme, habe ich meine Lektion gelernt:
Lache nie über dieses Land.
Denn Estland lacht immer zuletzt.
Und zwar (wahrsch.) so:
„Gnüüüühühü!“