„It`s India!“ – Die Geduldsprobe
In Indien kann es schon mal etwas länger dauern.
Das weiß man, bevor man dorthin reist.
Auf der Indischen-Bahn-Seite staune ich über Durchschnittsverspätungen von bis zu 42 Stunden.
Und weiß, ich muss mich locker machen.
„Relax, it`s India!“.
Und tatsächlich.. ich war und blieb entspannt.
Drei Wochen lang. Bis sie kam:
Die Geduldsprobe.
Einem Kleinkind beim Schuhe zubinden zusehen? Ein Witz dagegen.
Kreisverwaltungsreferat? Da lach ich doch!
Ich… habe in Indien ein Paket verschickt.
Natürlich konnte ich es nicht lassen, eine Riesentüte an Souvenirs und Geschenken zusammenzukaufen, die ich nicht noch weitere zwei Monate mit mir herumschleppen wollte.
„Das kann ich ja auf dem Weg schnell zur Post bringen“, denke ich.
Denn ich ziehe von meinem Hostel in Udaipur in einen Homestay außerhalb der Stadt um.
Also organisieren mir die netten Hostel-Jungs einen Tuktuk-Fahrer, der mich samt meinen Rucksäcken erst zum Postamt und dann in den Homestay bringen soll.
„Er wartet 10-15 Minuten auf dich vor der Post.“, sagen sie. „Das reicht locker.“
Es reichte nicht locker.
Denn ich stieß im Postamt des Grauens auf den Gott der Langsamkeit.
Mensch geworden in einem etwa 45-jährigen Postbeamten, nennen wir ihn Slowmo.
Zweieinhalb Stunden meines Lebens verbrachte ich damit, ihm zuzuschauen, wie er mein Paket verpackt.
Doch fangen wir von vorne an.
Das Protokoll (ich hatte genügend Zeit zum Mitschreiben):
15.00 Uhr
Der Tuktuk-Fahrer setzt mich vor der Poststelle ab.
„Bis gleich!“, sage ich. BIS GLEICH 😀
15.01
Ich freue mich riesig, dass fast keine anderen Kunden hier sind und gehe direkt zum ersten Fenster.
Der miesgelaunte Beamte 1 schüttelt den Kopf und schickt mich ein Fenster weiter zum miesgelaunten Beamten 2.
Der miesgelaunte Beamte 2 schüttelt den Kopf und schickt mich eins weiter zum miesgelaunten Beamten 3.
So arbeite ich mich langsam Fenster für Fenster vor, lande schließlich am letzten Fenster und frage mich kurz, warum man mich nicht gleich ganz nach hinten geschickt hat.
Aber hey, ich bin entspannt.
Und da sitzt er: Slowmo.
Hektisch reiche ich ihm meine blaue Plastiktüte.
„To Germany, please.“, sage ich.
„Already closed.“, erwidert er emotionslos.
„Aber .. aber es ist doch offen, es sind doch Leute hier, und miesgelaunte Beamte?“ frage ich verzweifelt.
„Post already closed. Only wrapping. Sending in other Post office.“
Ich atme tief durch. Ok. Dann lasse ich das Paket eben hier verpacken und fahre mit dem Tuktuk noch eins weiter zur nächsten Poststelle.
No problemo, ich bin entspannt.
15.03 Uhr
Der miesgelaunte Beamte 1 am ersten Fenster ruft so etwas wie:
„Hey, Slowmo, komm mal extrem langsam hier her!“
Slowmo erhebt sich seufzend von seinem Stuhl und schlurft zum ersten Schalter.
„Geh nicht!“, will ich rufen, „mein Tuktuk wartet nur 15 Minuten!“
Doch ich weiß: It`s India.
Also warte ich. Und warte. Und warte.
15.08 Uhr
Slowmo kehrt zurück.
Er setzt sich an seinen Schreibtisch und blickt mich fragend an.
Da fällt ihm ein: Oh, da war ja was.
Slowmo steht schwerfällig seufzend wieder auf und schlurft weg.
15.10 Uhr
Ich renne kurz zu meinem Tuktuk-Fahrer.
„Sorry, es dauert noch ein bisschen.“
„It`s ok.“, seufzt er.
15.11 Uhr
Ich bin zurück. Slowmo nicht.
Oh, da kommt er ja schon angefetzt (nicht!), mit einem zerbeulten Karton.
Juhu, jetzt geht’s los!
Doch es gibt ein Problem: Der Karton muss erst noch zurecht gefaltet werden, und eine der Klappen will einfach nicht in die Lasche passen.
Nach dem fünften Versuch hätte es FAST geklappt, doch dann ruft der miesgelaunte Beamte 3 aus dem Nebenraum:
„Slowmo kommst du kurz, äääh lang?“
Slomo schlurft los.
„Bitte nicht!“, will ich rufen. „Mein Tuktukfahrer wird sauer!“.
Doch ich weiß, es hilft nichts, it`s India.
15.25 Uhr
Ich renne nochmal kurz hinaus… der Fahrer lehnt an seinem Tuktuk und deutet fragend auf seine Ticktack.
Ich zucke hilflos mit den Achseln.
15.26 Uhr
Ich hetze schnell wieder zurück, nicht dass Slowmo…
Oh. Slowmo ist nicht da.
Ich warte. Und warte.
Da kommt Slowmo mit noch nassen Händen aus Richtung Toilette.
Jetzt aber!
Slowmo packt die blaue Plastiktüte in den Karton.
„Wie viel wiegt das denn jetzt?“, möchte ich wissen.
Slowmo seufzt und hievt das Paket auf die Waage.
Ich kann deren Anzeige nicht sehen und frage erneut:
„How much does it weigh?“
Keine Regung in Slowmos Gesicht.
„How many Kilos?“
Slowmo hebt drei Finger hoch und sagt: „Four.“
Aaaah, whatever, denke ich… Hauptsache er wird jetzt dann fertig.
15.40 Uhr
Slowmo fängt gerade an, das Paket mit Klebeband zuzukleben, da klingelt sein Handy.
Eine Frauenstimme fängt an zu plappern, und Slowmo sagt so etwas wie „Du Schatz, ich kann grad nicht, bin auf Arbeit, ich muss hier so ne Deutsche wahnsinnig machen.“
15.50 Uhr
Slowmo hat das Paket nun fertig verklebt. Da ruft der der miesgelaunte Beamte 2 so etwas wie: „Slowmo, ich bräucht` mal das Klebeband, aber stress dich nicht!“.
Slowmo steht gemächlich auf und übergibt das Klebeband.
Ich höre währenddessen meinen Zähnen beim Knirschen zu.
„Sind wir jetzt fertig?“, rufe ich in Richtung Slowmo.
„Nein.“, ruft Slowmo zurück und schlurft in den Nebenraum.
16.00 Uhr
Ich sehe nach dem Tuktukfahrer. Er sitzt mit offenem Mund im Tutktuk und schläft.
16.01 Uhr
Als ich wiederkomme, trägt Slowmo gerade ein Bettlaken herbei.
Will er etwa auch ein Nickerchen machen?
Nein. Er wickelt mein Paket in den Stoff ein.
Anschließend holt er einen armlangen Faden aus einer Kiste voller armlanger Fäden, und fängt an, den Stoff zusammenzunähen. An allen zwölf Kanten des Pakets entlang.
Da ein armlanger Faden nicht besonders lange reicht, muss Slowmo alle paar Minuten einen neuen Faden einfädeln.
Und vergisst jedes Mal wieder, einen Knoten zu machen, damit der neue Faden nicht sofort wieder durch den Stoff rutscht.
Meine Zähne sind jetzt auf Zahnfleischlevel heruntergeknirscht
16.14 Uhr
Ich sehe nach dem Tuktuk-Fahrer. Er sitzt in der Sonne und meditiert.
16.15 Uhr
Der miesgelaunte Beamte 4 wedelt auffordernd mit einem Stück Papier in Richtung Slowmo.
Mit großem Schrecken sehe ich: Slowmo sitzt am Platz mit dem Kopierer.
Weil der miesgelaunte Beamte 4 wohl selbst recht ungerne kopiert und auch recht ungerne läuft, steht Slowmo auf, holt das Papier ab, geht zurück und fängt an zu kopieren.
Nur ist es bei dem Kopierer so, dass er einen kleinen Haken hat:
Man muss ihn nach jeder Kopie neustarten.
Und der miesgelaunte Beamter braucht 4 Kopien.
Slowmo kopiert. Und startet neu. Und kopiert. Und startet neu. Und kopiert. Und startet neu. Und kopiert. Und schlurft schließlich mit den vier Zetteln zum miesgelaunten Beamten 4.
16.25 Uhr
Slowmo ist gerade wieder am Nähen.. da ruft der miesgelaunte Beamte 3:
„Slowmo, kommst du mal, aber geh bitte langsam, nicht dass du fällst!“
Slowmo erhebt sich und reicht mir nach dem Anblick meiner pulsierenden Augäpfel den Zollzettel, den ich zwischendurch ja schon mal ausfüllen kann.
Ich lasse mir mit meiner Item-Liste sehr viel Zeit (Kaffee, Muskatnüsse, ein Pfefferkorn, noch ein Pfefferkorn, noch ein Pfefferkorn…)
Und da kommt Slowmo auch schon zurück.
16.30 Uhr
Slowmo hat alle Kanten perfekt vernäht und sauber den Reststoff abgeschnitten.
Ich warte darauf, dass er anfängt, den Stoff mit Kartoffelstempeln zu bedrucken.
Aber nein.
Er will jetzt meinen Reisepass kopieren.
Da ruft der miesgelaunte Beamte 4 frei übersetzt: „Slowmo, die 4 Kopien von vorhin sind nix geworden“.
Slowmo seufzt, erhebt sich, holt die Kopien ab, geht zum Kopierer, macht eine Kopie, startet neu, macht eine Kopie, startet neu, macht eine Kopie, startet neu, macht eine Kopie startet neu und weil er gerade so schön in Fahrt ist, kopiert er gleich noch meinen Pass.
Ich besuche in derweil meinen Tuktukfahrer und frage ihn, ob er zwischendurch nicht irgendwas erledigen will. Eine Weltreise mit dem Tuktuk zum Beispiel.
Doch dann einigen wir uns darauf, dass er den dreifachen Fahrtpreis bekommt und dafür weiter auf mich wartet.
16.40 Uhr
Mein Pass ist kopiert. Jetzt muss die Kopie nur noch auf das Paket geklebt werden.
Weil der miesgelaunte Beamte 2 immer noch mit der Rolle Klebeband von vorhin beschäftigt ist, bringt Slowmo ein anderes Klebeband.
Das Problem ist nur: Diese Klebebandrolle hat keinen Anfang.
Zumindest findet Slowmo ihn nicht.
„Kein Problem“, denkt Slowmo, „dann mache ich eben einen neuen Anfang!“
Und so versucht er, mit seinem sehr rund geschnittenen Fingernagel das Klebeband aufzuritzen.
Die gleich daneben liegende Schere liegt friedlich vor sich hin.
Danach schafft es Slowmo immerhin, ein etwa 1 Millimeter großes Stück des Klebebands abzupulen, das jedoch mit zunehmendem Abpulen immer schmäler wird und schließlich abreißt.
Mist, nochmal.
Mist, nochmal.
Mist, nochmal.
Fast! Nochmal.
Mist, nochmal.
Jetzt!!!
Slowmo hat es endlich geschafft, ein ganzes Stück Klebeband abzureißen.
Juhu! Nur noch drei Klebestreifen, dann ist die Passkopie an allen vier Seiten verklebt!
Zu früh gefreut. Slowmo klebt den Streifen in die Mitte. Noch vier!
Pul, pul, pul, ritz, ritz, ritz, pul, pul, pul, pul… jaaaaa! Ein weiterer Streifen! Noch drei!
Nein. Auch diesen Streifen klebt Slowmo in die Mitte. Noch vier!
17.00 Uhr
Slowmo hat es gerade geschafft, einen weiteren Streifen halb abzupulen, da klingelt sein Handy.
„Nein, das tust du jetzt nicht!“ denke ich.
Doch, er tut es. Slowmo lässt das Klebeband los und geht an sein Handy.
Die Frau nochmal.
„Du, es geht grad echt nicht. Ich bin hier am Klebeband pulen.“, sagt Slowmo in etwa, und klingt langsam tatsächlich etwas gestresst.
17.05 Uhr
Der plötzlich gar nicht mehr miesgelaunte Beamte 1 setzt sich neben den pulenden Slowmo und beginnt, ihm lachend eine supergute Geschichte zu erzählen.
Bestimmt so etwas wie: „Das glaubst du nicht, überall sonst auf der Welt gibt es Kopierer, da kann man vier Kopien auf einmal machen, wie bescheuert ist das denn!?.“
Meine Hände zieht es bereits gefährlich in Richtung Gurgel des Beamten 1, da unterbricht ihn Slowmo mit den ungefähren Worten:
„Du, lass mich jetzt mal, ich muss hier noch was fertig machen vor der Rente“, und schon ist der Beamte 1 wieder miesgelaunt und schlurft beleidigt von dannen.
17.13
Slowmo fängt wieder an, den Anfang vom Klebeband zu suchen.
Pul, pul, pul, pul…
Jetzt kann ich nicht mehr.
Ich klettere über den Tresen und schnappe mir das Klebeband.
17.14
Ich habe den Zettel fertig aufgeklebt.
„Thank you“, murmelt Slowmo erleichtert. „Thank you“.
„Finish?“, flehe ich.
„No.“ sagt Slowmo, und geht ab.
NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN!
17.20
Slowmo kommt zurück und stellt ein Töpfchen mit Wachs und eine Kerze auf den Tisch.
Er zündet die Kerze an und wärmt nun langsam, ganz, ganz langsam, das Wachs auf.
Dann holt er einen Stempel und beginnt, alle Nähte des Pakets zu versiegeln.
Gemeinsam sehen wir schweigend dem Wachs beim Trocknen zu.
Und dann … endlich… sagt Slowmo stolz: „Finish!“
17.30
Glücklich stürme ich mit meinem Mittelalter-Paket hinaus zum Tuktuk-Fahrer, der mich mit den Worten: „Other Post office closed now!“ begrüßt.
Ich will gerade meine Fäuste gen Himmel recken, da winkt er mich ins Tuktuk: „Ok, go fast!“.
Mit einem Affenzahn rasen wir zur anderen Poststelle, ich stürme hinein, gerade noch rechtzeitig… und alles andere war dann in 3 Minuten erledigt.